- Hippokrates und die griechische Medizin: Die Lehre von den vier Säften
- Hippokrates und die griechische Medizin: Die Lehre von den vier SäftenDas Nachdenken über Entstehung und Gestaltung der Welt nahm auch bei den Griechen seinen literarischen Einstieg über die »Theogonie« Hesiod lässt dabei die das Weltentstehen repräsentierende Generationenfolge der Götter mit Zeus enden, der daraufhin als Gott des Geistes dem nun in seinem Bestand gesicherten Weltgefüge seine rationalen Ordnungsprinzipien aufprägen konnte. Die nachfolgenden Denker haben diese Vorstellungen ihrer mythischen Dimension entkleidet und die komplexe Natur gedanklich auf ihre später unveränderlichen »natürlichen« Urgründe reduziert. So sah beispielsweise Empedokles die vier Elemente Feuer, Luft, Wasser und Erde und die mit ihnen verknüpften Qualitäten kalt-warm und feucht-trocken als Prinzipien der Dinge an.Hippokrates von Kos aus der sich auf den Heilgott Asklepios zurückführenden Ärztefamilie der Asklepiaden war der erste Arzt, der das auf seinen Wanderungen empirisch gewonnene medizinische Wissen und seine auf Erfahrung beruhende ärztliche Kunst mit naturphilosophischen Erkenntnissen der frühen Denker zu einer eigenen Lehre verband, die er gleichzeitig in die Schriftlichkeit überführte und damit öffentlich machte. Die medizinischen Fachschriften wuchsen sich daraufhin zum wohl umfangreichsten Bereich antiker Literatur aus, sodass später die Buchrolle zum Zeichen für den gelehrten Arzt gegenüber einem nur angelernten handwerklichen Heilkundigen werden konnte. Nur wenige der im »Corpus Hippocraticum« überlieferten Schriften stammen allerdings schon von Hippokrates selbst - etwa die »Epidemien« (Buch 1 und 3) und das »Prognostikon« -, die meisten sind Schriften unmittelbarer Schüler oder späterer Hippokratiker. Die Ausrichtung der umfangreichen Werke des Galen von Pergamon (im 2. Jahrhundert n. Chr.), des späteren Leibarztes am römischen Kaiserhof, an seinem großen Vorgänger hat dazu geführt, dass neben vielen seiner eigenen Schriften auch jenes Schriftencorpus, nicht aber die Werke der großen Mediziner aus der klassischen und hellenistischen Zeit (wie Praxagoras, Diokles von Karystos; Herophilos, Erasistratos, Athenaios) erhalten sind. Die Fachsprache der Medizin ist in der Antike stets das Griechische geblieben.Hippokrates hatte natürlich auch Vorläufer, darunter Alkmaion von Kroton, einen jüngeren Zeitgenossen des Pythagoras. Mit seinen durch dessen Denken beeinflussten, jedoch allzu spekulativen Vorstellungen von der Gesundheit als dem Gleichgewicht sämtlicher entgegengesetzten Kräfte hat er letztlich die Richtung der griechischen und damit auch der arabischen und abendländischen Medizin bestimmt. Hippokrates' Verdienst war es, die Beliebigkeit von »Gegenkräften«, die in der Natur als wirksam gedacht wurden, auf die vier Grundqualitäten als Prinzipien zu reduzieren. Diese wurden ursprünglich mit zwei der Elemente (Feuer - warm und trocken; Wasser - feucht und kalt), nach Aristoteles mit allen vier Elementen, aus denen man sich den menschlichen Körper bestehend dachte, verknüpft; bereits bei Hippokrates wurden sie mit den stets in der Vierzahl auftretenden Körpersäften (lateinisch: humores) verbunden. Die Einheitlichkeit der Prinzipien ermöglichte zugleich eine Integration und ein Zusammenwirken von Mikro- und Makrokosmos.In ausgereifter Form trat die Viersäftelehre als Qualitäten-Humoralpathologie, dann in der Schrift »Über die Natur des Menschen« auf, während die einheitliche Zuordnung der vier Elemente zu den vier Säften innerhalb der Krankheitslehre erst nach Aristoteles erfolgte: Blut (griechisch haima, lateinisch sanguis: nass und warm / Feuer, Kindheit, Frühling), gelbe Galle (chole: trocken und warm / Feuer, Jugend, Sommer), schwarze Galle (chole melaina /melancholia: trocken und kalt / Erde, Reife, Herbst), Schleim (phlegma: nass und kalt / Wasser, Greisenalter, Winter).Die harmonische Mischung der Säfte, die Eukrasie, stellt nach dieser Lehre den Gesundheitszustand eines Menschen dar, während ein anfangs lokales Missverhältnis im Säftehaushalt, die Dyskrasie, Ursache für eine Krankheit sei; denn sie führe zur Bildung von kranker und krankmachender Materie, die in »rohem« Zustand schädigend auf den Organismus wirke und nach und nach auch die umgebenden Organe befalle. Die Umwandlung dieser Materie in einen unschädlichen Zustand (durch »Kochung«), in dem sie (als Eiter, Schweiß, Erbrechen, Auswurf, Harn, Stuhl, aber auch als Menstruationsblut) ausgeschieden werden könne, erfolge in der Regel durch die natürliche Heilkraft des Körpers. Die Aufgabe des Arztes ist demzufolge, mit seinen Maßnahmen zu geeigneten Zeitpunkten im dynamischen Verlauf einer Krankheit der »Natur« des Patienten zu Hilfe zu kommen, die ihr »unnatürliche« Mischung zu beseitigen. Werde die Krankheitsmaterie nämlich im Körper abgelagert, komme es zu Rückfällen oder gar chronischen Erkrankungen. Enstehe eine Dyskrasie bei offenen Wunden etwa durch Blutverlust, so mache sie sich im Inneren des Betroffenen durch (lokale) Beschwerden als Symptome und »Zeichen« bemerkbar, die es für den Arzt zu erkennen gelte. Einen Blutüberschuss etwa konnte er durch eine mittels Schröpfkopf oder Aderlass erzeugte künstliche Blutung ausgleichen.Allerdings sollte der Arzt berücksichtigen, dass schon die Eukrasie und daraufhin auch die Dyskrasie und der Krankheitsverlauf jeweils individuell verschieden sind - je nach Alter und Geschlecht, nach Lebensumständen und Charakter sowie Umwelt. Der Charakter seinerseits ergibt, bedingt durch einen nicht pathologischen individuellen Überschuss einer der Säfte, den Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker oder Phlegmatiker. Zudem könne eine nicht der »Natur« des Individuums entsprechende Dyskrasie schon durch einseitige Lebens- und Essgewohnheiten verursacht und deshalb nur durch deren Umstellung beseitigt werden; die »Diätetik« und prophylaktische Gesundheitslehre bilden deshalb den wichtigsten Teil der hippokratischen Medizin.Eine stärkere Betonung erhielt die medikamentöse Therapie erst bei alexandrinischen Ärzten, dann aber vor allem bei Galen, der auf der Basis einer von der Stoa beeinflussten Pneumalehre und Physiologie eine engere Verknüpfung von Viersäfte- und Vierelementenlehre vornahm. Für die eine Ausscheidung anregende oder eine Dyskrasie ausgleichende Therapie verwendete er gegenüber Hippokrates vermehrt vorwiegend pflanzliche Arzneimittel, die die Qualitäten der fehlenden Säfte im Übermaß enthalten oder dem Körper die »kranke Materie« entziehen sollten. In einer durch die Araber im Mittelalter verfeinerten Form hat die antike Humoralpathologie dann die Medizin und Pharmazie bis tief ins 18. Jahrhundert beherrscht.Prof. Dr. Fritz Krafft
Universal-Lexikon. 2012.